Wochen-Impulse

Zeugnishörigkeit oder Abschottungspolitik?

Einfach Karriere – Wochen-Impulse 80/ 2020

In Deutschland sind wir stolz auf unser duales Ausbildungssystem. Sicherlich zu recht. Auf der anderen Seite haben wir damit eine intelligente Abschottung für Arbeitskräfte aus anderen Ländern erschaffen, die uns in Zeiten von Fachkräftemangel und Integration von Migranten um die Ohren fliegt. Eine weitere Zutrittsmauer haben wir uns geschaffen durch die weit verbreitete Zeugnisgläubigkeit.

Kann ein potentieller Arbeitnehmer kein Zeugnis oder Zertifikat nachweisen, was bei Migranten, die seit 2015 in großer Zahl in Deutschland Asyl beantragt haben, der Normalfall ist, wird er systemisch in die Hilfsarbeiterecke geschoben. Im „Idealfall“ vermittelt man ihn in eine Umschulung zu einem berufsfernen Job. Wir nutzen auf diese Weise bestehende Potentiale nicht.

Ein höchst peinliches Beispiel für Abschottung und Zeugniswahn erzählte mir jüngst ein irakischer Zahnarzt bei einem Bewerbercoaching. In seiner Heimat hat er15 Jahre eine eigene Praxis geführt. Seinen universitäten Abschluß hat er in Deutschland anerkannt bekommen. Sein Deutsch ist im übrigen ausgezeichnet. Nun könnte man denken, alles super, dann darf der Mann dauerhaft seinen Beruf ausüben. Weit gefehlt.

Die Zahnärztekammer Nordrhein hat ihn noch zu einer Gleichwertigkeitsprüfung geladen. Den praktischen Teil, auf den es nach meinem Verständnis ankommt, hat er bestanden, den theoretischen nicht. Nun muss er über ein Jahr warten, um diesen Spaß nochmals machen zu dürfen, der im übrigen nicht ganz umsonst war. Runde dreitausend EURO sind schon eine Stange Geld. Insbesondere, wenn ich mich an eine Frage erinnere, die er aus der Theorieprüfung nannte: „Was unterscheidet einen Patienten aus dem Ruhrgebiet von einem aus Münster?“ Antwort: „Im Ruhrgebiet sind die Menschen weniger gebildet und kümmern sich daher weniger um ihre Zähne. Münster ist eine Universitätsstadt. Daher hat die Zahnhygiene einen höheren Stellenwert.“ Mal von der Unverschämtheit der Antwort abgesehen, erscheinen mir solche Fragen zur Beurteilung der Gleichwertigkeit doch eher ungeeignet.

Eine weitere Stilblüte deutscher Zeugnis- und Zertifikatgläubigkeit ist das Projekt Valikom Transfer, welches bundesweit vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert wird. Die Handels-, Handwerks- und Landwirtschafts-Kammern setzen das Projekt um.1

„Berufsrelevante Kompetenzen bewerten und zertifizieren. Menschen ohne formalen Berufsabschluss haben es in der Arbeitswelt nicht immer leicht. Ihnen fehlt ein anerkannter Nachweis über ihr fachliches Know-How und das, was sie können. Insbesondere wenn sie arbeitslos werden, kann dies ein handfestes Problem sein, denn auf dem Arbeitsmarkt werden sie leicht übersehen oder unterschätzt. […] Ziel ist es, für insgesamt 32 Berufe aus Industrie, Handel, Handwerk und Landwirtschaft Validierungsverfahren vorzubereiten und anzubieten.“2

Guter Gedanke, aber schon wieder ein Zertifikat. Kommen wir nicht ohne aus? Scheinbar DNA-bedingt können wir in Deutschland nicht einfach und praxisorientiert. Unternehmen könnten doch, wenn sie wollten. Scheinbar sehen sie durch die Duale-Ausbildungs-Brille zwar den angeblichen Fachkräftemangel, aber keine pragmatische Lösung.

In einem Migrantenprojekt habe ich vor zwei Jahren u.a. Teilnehmer aus Syrien und dem Irak gehabt. Wer in seiner Heimat zehn Jahre und länger in einem Handwerksberuf gearbeitet hat, wird für diesen Beruf eine gewisse Qualifikation mitbringen, die nutzbar ist. Zweifelsohne können diese ganz schnell in einem einwöchigen Praktikum oder ein, zwei Probearbeitstagen überprüft werden. Dafür benötige ich kein Validierungsverfahren.

Fehlendes theoretisches Wissen kann in Abend- oder Wochenend-Kursen vermittelt werden. Die Handwerkskammern signalisieren durchaus Bereitschaft handwerklich geschickten Arbeitern, auch ohne klassische Duale-Ausbildung, auf Basis von Berufserfahrung einen Gesellenbrief auszustellen. Das würde auch für eine zusätzliche Motivationsspritze sorgen.

Wundervolle Impulse für die nächste Woche.

Bleibe inspiriert.

Holger

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1 Kontaktdaten: https://www.validierungsverfahren.de/inhalt/verfahren/ansprechpersonen-vor-ort/

2 Zitat Webseite Projekt Valikom Transfer, https://www.validierungsverfahren.de/startseite/, 17.08.2020

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